Mehr als ein Sternchen

SERIE: POLITIKBETRIEB VON INNEN

 

Geschlechtergerechtigkeit: Es gibt noch viel zu tun!

Meine Tochter war für neun Monate in Südafrika, internationaler Freiwilligendienst. Sie arbeitete in einem Kindergarten in Mamelodi, einem schwarzen Township in Pretoria. Das meiste ging auf Englisch, aber sie lernte auch ein paar Brocken Xhosa. Natürlich bekam sie von ihren Freunden auch einen einheimischen Kosenamen: Entle. Sie schrieb ihn uns per E-Mail, am Telefon spottete ich liebevoll: „Na, meine schwäbische Entendame.“ Sie protestierte: „Halt, Papa, da ist ein Knacklaut drin: Ent-tschakle.“ Ich versuchte mich daran, und scheiterte kläglich. Wir lachten beide.

Das nächste Mal hörte ich den gleichen Laut neulich in Berlin. Ich unterhielt mich mit einer Praktikantin im Büro eines Abgeordneten. Sie saß alleine im Büro, ich fragte, ob die Kollegen auch da seien. Ziemlich scharf und mit einem bitterbösen Blick kam ihre Antwort: „Die Kolleg-tschak-innen sind zu Tisch.“ Das hatte nun aber nichts mit einem afrikanischen Dialekt zu tun, sondern hier war ich in die Genderfalle getappt – und hatte doch glatt allen weiblichen Abwesenden mit meiner maskulin gefärbten Sprache die Existenz abgesprochen … Übrigens hatte ich bis dahin noch gar nicht gewusst, dass man das Sternchen auch mitspricht.

CHANCENGLEICHHEIT STATT SPRACHPANSCHEREI
Warum dieser – zugegeben etwas spitze – Einstieg? Aus zwei Gründen: Zum einen, weil ich die Verhunzung der deutschen Sprache so verheerend finde, und die überheblich moralinsaure Attitüde dieser Sprachpanscher-tschak-innen so belehrend und arrogant daherkommt, dass ich es wirklich nur schwer ertragen kann.

Und zweitens, weil wir uns hier in unserer westlichen Wohlfühlzone in absurden Debatten über Knacklaute und gegenderte Toiletten verlieren, die mit der tatsächlichen Diskriminierung von Frauen nur wenig zu tun haben. Meiner Meinung nach ist damit das Thema verfehlt. Weltweit sind die Gleichstellung von Frauen und Männern und die nicht vorhandene Chancengleichheit von Mädchen und Jungen ein Riesenproblem. Meine Tochter kann nach ihrem Jahr in Südafrika ein Lied davon singen.

Gender Mainstreaming, also die politisch vordringliche Behandlung von Geschlechterthemen, ist daher definitiv ein Thema, das weltweite Priorität verdient. Der Begriff wurde erstmals 1985 auf der 3. UN-Weltfrauenkonferenz in Nairobi diskutiert und zehn Jahre später auf der 4. UN-Weltfrauenkonferenz in Peking weiterentwickelt. Diese Debatten wurden geführt angesichts der brutalen Berichte von Massenvergewaltigungen während des Jugoslawienkrieges und während des Genozids in Ruanda.

Bis heute sind Frauen nicht nur die strukturell am stärksten betroffenen Opfer von Kriegen, sondern vielfältig benachteiligt. 130 Millionen Mädchen weltweit dürfen nicht zur Schule gehen, häufig, weil sie bereits im Kindesalter zwangsverheiratet wurden. In Südasien und Subsahara-Afrika wurde etwa die Hälfte aller Frauen, die heute 20 bis 24 Jahre alt sind, vor ihrem achtzehnten Geburtstag verheiratet. Die Mehrheit der Armen und der größte Teil aller Analphabeten sind weiblich. Jedes Jahr sterben etwa 300.000 Frauen an Komplikationen während der Schwangerschaft oder der Geburt, 99 Prozent von ihnen in Entwicklungsländern.

Um nicht missverstanden zu werden: Auch in Deutschland gibt es Diskriminierungen und Gewalt gegen Frauen. Zwei Zahlen, die das beispielhaft belegen: 2016 wurden 34.000 Anrufe beim Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ verzeichnet. Dass das nur die Spitze des Eisbergs ist und gerade viele – vor allem auch sexuelle – Übergriffe gar nicht erst gemeldet werden, hat die #MeToo-Debatte deutlich ans Licht gebracht. Zweitens: 97 % aller Opfer von Menschenhandel zum Zwecke der Zwangsprostitution sind weiblich, mehrere hunderttausend Frauen werden in unserem Land täglich gegen Geld vergewaltigt. Für einen aufgeklärten demokratischen Rechtsstaat sind diese Zahlen skandalös.

MUTIG ANPACKEN JENSEITS DER STERNCHENFRAGE
Gender Mainstreaming rückt diese Missstände zu Recht ins Bewusstsein. Kein Mensch darf wegen seines Geschlechtes benachteiligt werden, das muss ohne Wenn und Aber gelten. Die Vereinten Nationen haben darum in ihre Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, die sogenannten Sustainable Development Goals (SDGs), unter Punkt 5 dieses Ziel aufgenommen: „Geschlechtergleichstellung – der Diskriminierung von Frauen und Mädchen will die UN weltweit ein Ende setzen.“

Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland heißt es in Artikel 3, Absatz 2: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Dafür braucht es ein Umdenken, von Männern und Frauen, auch ein Nachdenken darüber, wie Männer und Frauen voneinander und übereinander reden. Brot für die Welt formuliert auf seiner Website: „Geschlechtsbedingte Diskriminierung kann nur überwunden werden, wenn sich Frauen und Männer von gewohnten Rollenbildern lösen und sich gemeinsam für Geschlechtergerechtigkeit einsetzen.“ Absolute Zustimmung. Es gibt viel zu tun. Packen wir es an – und vergeuden unsere Zeit und Kraft nicht an die selbst ernannten Sprachpolizist-tschak-innen.

Uwe Heimowski (54) vertritt die Deutsche Evangelische Allianz als deren Beauftragter beim Deutschen Bundestag in Berlin. Er ist verheiratet mit Christine und Vater von fünf Kindern.