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Auf der faulen Haut?

Aus dem Alltag eines Bundestagsabgeordneten

„Was tun die eigentlich?“, fragte ein empörter Bürger, als er erfuhr, wo ich arbeite. Er hatte auf phoenix eine Bundestagsdebatte verfolgt und mit Entrüstung den (fast) leeren Plenarsaal zur Kenntnis genommen. Der Mann steht mit seiner Empörung nicht alleine. Seit sechs Jahren arbeite ich für einen Bundestagsabgeordneten, kurz MdB, und kaum eine Frage wird mir häufiger gestellt. Was tun die eigentlich? Genau genommen sind das ja sogar zwei Fragen: 1) Warum ist der Plenarsaal so spärlich besetzt? 2) Was tut ein MdB den lieben langen Tag?

DARUM IST DER BUNDESTAG LEER

Nummer eins ist schnell beantwortet: Die meisten Debatten im Bundestag werden zu Fachfragen geführt. Jeder MdB hat Spezialgebiete, in die er sich als Sprecher oder Berichterstatter intensiv einarbeitet. Dazu bilden sich die Fachausschüsse (26 sind es zurzeit, in jeder Wahlperiode werden sie neu besetzt) und analog thematische Arbeitsgruppen der Parteien. Zu breit ist die Themenpalette, die im Bundestag beraten wird, als dass sich jeder einzelne MdB über jeden Gesetzesentwurf minutiös informieren könnte. In den Fraktionen berichten die Experten dann, eine Diskussion ermöglicht die Meinungsbildung für alle anderen. Redner in den Debatten sind dann jeweils die Ausschussmitglieder zu ihren Berichterstatterthemen. Da die Sitzungswochen sehr voll sind, finden Ausschüsse und Plenum parallel statt. Die Tagesordnung wird so gestaltet, dass die Themen möglichst nicht mit den zuständigen Fachausschüssen kollidieren. Daher der leere Plenarsaal: Die meisten Abgeordneten sind während dieser Zeit in ihren Ausschüssen. Zu aktuellen Stunden, Regierungserklärungen, Themen mit allgemeiner Bedeutung (etwa bei Gewissensfragen) und natürlich zu den Abstimmungen kommen dann alle MdBs ins Plenum.  Für die zweite Frage möchte ich (mit freundlicher Genehmigung) einen Blick in den MdB-Kalender von Frank Heinrich werfen. Ich wähle ein beliebiges Datum. Stellvertretend für jeden anderen Sitzungstag, und ebenfalls stellvertretend für die anderen Abgeordneten, deren Tage ein ähnliches Pensum aufweisen.

DAS MACHT EIN BUNDESTAGSABGEORDNETER DEN LIEBEN LANGEN TAG

Mittwoch, 23. September 2015. Um 6:30 Uhr klingelt der Wecker, duschen, Frühstück, parallel: einige dringliche Emails beantworten. 7:15 Uhr Abfahrt von der Wohnung zum Jakob-Kaiser-Haus, im Auto: Telefonate. Dort um 7:45 Uhr Französisch-Kurs (beim Arbeitsschwerpunkt Afrika sind viele Diplomatengespräche auf Französisch), im Anschluss um 9:00 Uhr Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit (AWZ) im Paul-Löbe-Haus. Mit dabei: Postmappe zur Durchsicht (mal sind es zehn, mal fünfzig Briefe pro Tag). 10:45 Uhr Gesprächstermin im MdB-Büro mit Vertretern einer Stiftung, Ideenaustausch zu Projekten im Wahlkreis. Im Anschluss, kurze Abstimmung mit den Mitarbeitern im Büro, mehrere Telefonate. 13:00 Uhr Reichstag: Treffen mit der Europaministerin Albaniens, Thema: Flüchtlinge. 14:00 Uhr Öffentliche Anhörung zur Sterbebegleitung (Mitarbeiter übernimmt und schreibt mit). 14:30 Uhr Treffen der Obleute des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (MRA), Absprachen zur Tagesordnung, 15:00-18:00 Uhr MRA mit zwei eigenen Berichterstattungen – parallel:
Aktuelle Stunde im Plenum. 18:00 Uhr MdB-Büro: Treffen mit Terre de femme, Thema: Zwangsprostitution. Im Anschluss: Briefing durch Mitarbeiter zu Themen des Tages (u.a. Öffentliche Anhörung), kurze Absprache zu Post und Emails. Um 19:30 Uhr Fahrt zum Jugendgästehaus, Diskussionsrunde mit Teilnehmern der „Tage der Begegnung“ als einer von vier MdBs, danach Gespräche mit den jungen Erwachsenen, Ende: 22:00 Uhr. Parallel: „Ruf-Bereitschaft“, bei strittigen Abstimmungen Fahrt ins Plenum (heute bis ca. 23:00 Uhr). Besonderheit an diesem Tag: nur ein Abendtermin, manchmal sind es (trotz Auswahl und Absagen) bis zu drei Termine nacheinander. Im Anschluss Fußweg zur Wohnung, dabei mehrere Telefonate. Zuhause: Emails beantworten, zwischen 1:00 Uhr und 2:00 Uhr erlischt das Licht. Nächster Morgen: 7:00 Uhr klingelt der Wecker.
Ein Journalist, der vor einiger Zeit Frank Heinrich einen Tag lang im Bundestag begleitet hat, stellte nachmittags die Frage: „Wann essen Sie eigentlich?“ Gute Frage. „Was tun die eigentlich?“ hatte sich erübrigt. Essen: Wenn es passt. In manchen Sitzungssälen lassen sich belegte Brötchen erwerben. Manchmal passt es nicht. Manchmal wird aus einem Termin ein Arbeitsessen.

DÄUMCHEN DREHEN TUT HIER NIEMAND

Soweit zu den Bundestagswochen. Dazu kommen die Ter-mine im Wahlkreis. Gut die Hälfte seiner Zeit verbringt ein MdB dort. Und es reiht sich ebenfalls Termin an Termin: Mein Chef, der aus dem Sozialbereich stammt, nutzte sein erstes Jahr für Firmenbesuche, um sich ein Bild von der Wirtschaft in Chemnitz zu machen. Da kamen in eineinhalb Jahren über 160 Besuche zusammen. Plus Bürgersprechstunden, Gesprächsrunden, Vorträgen, Schülerprojektwochen, Diplomatenbesuchen – und manchem mehr. Fazit: Man muss nicht mit allem einverstanden sein, was Politiker tun. Aber eines dürfte deutlich geworden sein: Auf der faulen Haut liegt im Deutschen Bundestag niemand.

Uwe Heimowski (51) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Frank Heinrich, Stadtrat, Vater von fünf Kindern, Ehemann und Gemeindereferent in der Evangelisch freikirchlichen Gemeinde Gera.

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