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»Wir sind ein Ärgernis«

Die Tafeln unterstützen täglich Menschen mit Lebensmitteln – und begegnen so der sozialen Ungleichheit. Im Gespräch mit Jochen Brühl, dem Vorsitzenden des Tafel- Dachverbands, über Ehrenamt, Einsamkeit und eine offene Tür.

Welche Mahlzeit kochen Sie sich am liebsten?
Wichtig ist weniger, was ich mir koche, sondern mit wem. Ich lebe in einer christlichen Lebensgemeinschaft mit 13 Menschen. Alle haben ihr eigenes Schlafzimmer, ihr Arbeitszimmer, jeder hat sein eigenes Bad, aber wir teilen eine Küche und ein gemeinsames Esszimmer. Zusammen zu essen macht einen großen Wert für mich aus. Denn Essen brauche ich ja nicht nur, um nicht umzufallen, essen ist auch eine Kommunikationsplattform.

Können die Tafeln das auch sein?
Tafeln sind auch Orte der Begegnung, ja. Orte, an denen sich Menschen treffen, die sich sonst nicht treffen würden: Der pensionierte Richter vom Amtsgericht und die Hartz IV beziehende Alleinerziehende, die hier miteinander ins Gespräch kommen.

Hartz IV reicht also nicht aus zum Leben?
Hartz IV reicht aus zum Überleben. Aber jeder, der als Nicht-Betroffener versucht, Dinge schönzureden, sollte sich das sehr gut überlegen. Von Armut betroffen zu sein, bedeutet, nicht in den Urlaub zu fahren, nicht ins Kino zu gehen, das Kind vielleicht nicht in den Musikunterricht schicken zu können, Scham davor zu haben, Menschen zu sich nach Hause einzuladen. Ich warne davor, dass man sich allein aus wissenschaftlich distanzierter Position heraus dazu äußert.

Wie können die Tafeln Solidarität mit diesen Menschen erzeugen?
Die Tafeln sind Sichtbar-Macher. Tafeln erinnern mit dem, was sie tun, daran, dass in unserer Gesellschaft Menschen abgehängt sind. Es gibt Lobbyisten für Diesel-Fahrzeuge und für was auch immer, aber wo sind die Lobbyisten für Ausgegrenzte und Abgehängte? Die Tafeln sehen sich neben der praktischen Soforthilfe auch als Ärgernis und Provokation.

Erleben Sie auch Frust und Aggression vor Ort?
Menschen, die sich bei der Tafel Unterstützung holen, sind oft beschämt. Sich einzugestehen, gescheitert zu sein, ist schwer. Tafel-Kunden sind außerdem keine homogene Gruppe. Natürlich gibt es da auch mal das Gefühl, dass jemand anderes einem etwas wegnimmt. Deswegen geben Tafeln sich Regeln, deshalb schulen wir unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, wie sie mit schwierigen Situationen umgehen können.

Inwiefern ersetzen die Tafeln den Sozialstaat?
In Deutschland sind ca. 4 Millionen Menschen auf Hartz IV angewiesen und 12 Millionen Menschen von Armut bedroht – die Tafeln unterstützen 1,5 Millionen von ihnen mit Lebensmitteln. Das ersetzt nicht den Sozialstaat. Tafeln geben ein Zubrot und schaffen Handlungsspielräume.

Der Staat verlässt sich darauf.
Es gibt einen unglaublichen Überfluss an Lebensmitteln, und es gibt Menschen, die nicht genug zum Leben haben. Diese Brücke haben wir gebaut. Aber wir sind auf keinen Fall da, um den Staat zu entlasten. Es ist Aufgabe der Gesellschaft und der Politik, Tafeln überflüssig zu machen. Ich wünschte mir, die Tafeln müsste es nicht geben.

Was erwarten Sie von der Politik?
Zuerst einmal genau hinzusehen. Die Frage ist doch: Lädt der einzelne Politiker Vertreter von sozialen Organisationen regelmäßig zu einem runden Tisch ein und fragt, was zu machen ist? Hat er einen Sinn für diese Diskussionen? Fragt er die Leute, die sich Tag für Tag ehrenamtlich engagieren: Was passiert bei euch? Wenn Politiker in Talkshows von „einfachen Leuten“ sprechen, wen meinen sie dann?

 

»WO SIND DIE LOBBYISTEN FÜR AUSGEGRENZTE UND ABGEHÄNGTE?«

 

Was treibt Sie an, der Armut offensiv zu begegnen?
Als Christ brauche ich nur auf Jesus zu schauen. Der Messias kommt in einem nach Kot und Urin stinkenden Gebäude zur Welt. Er weiß, wie es sich anfühlt, ganz unten angekommen zu sein. Maria, Josef und die Hirten sind gesellschaftlich gleichzusetzen mit Tafelkunden. Jesus hat erlebt, wie es Menschen geht, was ihre Nöte sind. Er ist zu ihnen gegangen. Für mich ist Jesus der, der mich beauftragt, dem Einsamen, dem Alten, dem Pflegebedürftigen zur Seite zu stehen.

Was hält uns davon ab?
Wir können alle immer unglaublich gut Probleme beschreiben und definieren. Doch ich wünsche mir, dass wir endlich die Motivation finden, die Gesellschaft miteinander zu gestalten. Das bedeutet nicht, dass wir in allen Themen der gleichen Meinung sein müssen. Es ist wichtig, dass man sich kritisch mit Themen auseinandersetzt. Aber am Ende muss immer der Mensch, der in Not ist, der Hilfe braucht oder einsam ist, im Fokus stehen.

Ein Beispiel?
Gastfreundschaft ist so ein Thema. Zu sagen: Ich mache mich auf den Weg mit den Menschen, die um mich herum sind. Jemanden zum Essen einladen, um mit ihm Leben zu teilen. Zu verstehen, wie es ihm eigentlich geht. Sich aus der eigenen Komfortzone bewegen. Ruhig mal zur Elternpflegschaft gehen oder auf dem Schulfest grillen und andere Meinungen und Ideen kennenlernen.

Wie kann ich einen Blick für die Einsamen bekommen?
Für mich ist das eine Frage der Haltung. Wahrzunehmen und wertzuschätzen, wie Menschen leben, zuzuhören und zu verstehen, wie es ihnen geht. Wenn ich das nicht tue, habe ich oft schon eine vorgefertigte Position. Mir hat es sehr geholfen, nicht zu bewerten oder zu beurteilen, wenn Menschen in einer bestimmten Lebenssituation sind.

Was beeindruckt Sie an Ihren ehrenamtlichen Helfern?
Mich beeindruckt eine Frau bei der Tafel Ludwigsburg, die ich damals mitgegründet habe. Sie ist über 80 Jahre alt und geht viermal pro Woche zur Tafel. Sie hilft Menschen, ohne sie zu bevormunden. Sie hilft und wirkt durch ihre zupackende Art. Es berührt mich wirklich sehr, wenn Menschen ohne große Worte einfach für andere da sind. Von diesen Menschen lerne ich, was Engagement, was Courage heißt.

Warum bleiben Sie nicht zu Hause auf der Couch?
Das darf ja auch mal sein. Aber es ist wichtig, sich immer wieder aufzumachen, die Tür der Aufmerksamkeit, der Wertschätzung zu öffnen und Menschen einfach zuzuhören. Jesus hat sich immer mit Menschen auseinandergesetzt. Er hatte zwar einen Standpunkt, aber er war auch Teil einer Gesellschaft und hat sich in die Lebenswirklichkeit anderer Menschen begeben, um herauszufinden, wie sie fühlen und denken. Wenn ich nur mit den Menschen rede, die so denken wie ich, verändere ich diese Welt nicht.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Die Fragen stellte Tobias Hambuch.

Hunger

Ein lauer Sommerabend unter Freunden in Berlin

Es war ein langer Tag. Markt der Möglichkeiten beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in Berlin. Rüdiger Jope hat einen Stand betreut, ich bin durch die Hallen geschlendert. Abends treffen wir uns in einer feinen Pizzeria in der Nähe des Brandenburger Tors. Ein Abend unter Freunden. Lecker essen, dazu bleifreies Weizen und viel zu erzählen. Plötzlich summt das Handy. Mein Freund und ehemaliger Chef schickt eine SMS: Frank Heinrich, Mitglied des Deutschen Bundestags. Er ist gerade in Berlin angekommen und hat etwas Zeit. Wir laden ihn ein, bald sitzen wir zu dritt in der Runde.

HIER PIZZA, DA LEERE TELLER
Frank ist vor wenigen Stunden aus dem Südsudan zurückgekehrt. Die frischen Eindrücke sprudeln aus ihm heraus. Als Obmann seiner Fraktion im Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe war er auf Einladung des World Food Programme vor Ort, um sich ein Bild von der Lage der Menschen zu machen. In Ostafrika herrscht aktuell die schwerste humanitäre Krise, die das – nun wahrlich genug gebeutelte – Afrika seit vielen Jahren erleben muss.

2011 hat sich der Südsudan unabhängig gemacht. Seit 2013 herrscht Bürgerkrieg im Land. Die Hungersnot, die durch den Krieg und eine verheerende Dürre am Horn von Afrika entstanden ist, betrifft nach Schätzungen der UNO 5,5 Millionen Menschen – das ist in etwa die Hälfte der Bevölkerung. Die Welthungerhilfe beschreibt auf ihrer Webseite die katastrophalen Auswirkungen dieser anhaltenden Krise im Südsudan: „Über 3 Millionen Menschen haben ihr Zuhause verlassen, 1,9 Millionen sind Vertriebene im eigenen Land, 1,74 Millionen sind in Nachbarländer geflohen. Sie suchen Schutz in sichereren Gebieten oder in Flüchtlingscamps. Doch die Bedingungen dort sind schlecht, es fehlt an Zelten, Wasser und Hygiene. Die meisten der Flüchtlinge sind von Nahrungsmittellieferungen abhängig. Mehr als 5.000 Fälle von Cholera-Erkrankungen wurden seit Mitte 2016 erfasst, größtenteils in der Nilregion. 1,64 Milliarden US-Dollar sind laut UNHCR nötig, um 5,8 Millionen Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen.“

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein wichtiges Geberland für Ostafrika. Entwicklungsminister Gerd Müller besuchte die Region im April, Außenminister Sigmar Gabriel nahm ebenfalls im April an einer Geberkonferenz mit Vertretern der UN und der EU in Brüssel teil. Weitere Konferenzen zur Verknüpfung der Geber und zur Koordinierung der Hilfsmaßnahmen sind geplant. Das Entwicklungsministerium stellt in diesem Jahr insgesamt 300 Millionen Euro zur Verfügung. Hinzu kommen 120 Millionen Euro für Humanitäre Hilfe aus dem Haushalt des Auswärtigen Amtes. Für den Südsudan hat das Außenministerium 40 Millionen Euro und für das Horn von Afrika zusätzlich noch einmal 15 Millionen Euro Hilfsgelder eingeplant. Frank zeigt uns Fotos aus dem Land. Auch ein kleines Video hat er auf dem Smartphone: Er hat ein Transportflugzeug gefilmt, das Lebensmittelkisten per Fallschirm abwirft. Danach werden die Vorräte eingesammelt, sortiert und geordnet an Flüchtlinge verteilt. Eine logistische Meisterleistung für das World Food Programme und seine Partner, die die Helfer und die Hungernden erstaunlich diszipliniert meistern.

DANKBAR GENIESSEN, AKTIV TEILEN
All das hören wir, während wir unsere Pizza entspannt im Biergartenflair der Bundeshauptstadt genießen. Dabei weht mich ein schlechtes Gewissen an. Aber nur kurz. Stattdessen meldet sich Dankbarkeit. Unbeschreibliche Dankbarkeit, in einem friedlichen, sicheren Land zu leben. Einer bewährten Demokratie, einem Rechtsstaat, einem Sozialstaat. Keine Frage: Es gibt Unwuchten auch in unserem Land. Es gibt benachteiligte Gruppen. Es gibt Ungerechtigkeiten, nicht jeder hat die gleichen Chancen. Es gibt Fragen an die Zukunft: Wie soll es mit der Rente weitergehen? Wie können die Sozialsysteme dauerhaft finanziert werden? Wie wird sich die EU entwickeln? Wie die weltweite Wirtschaft? Wie integrieren wir die Menschen, die in unser Land gekommen sind? Wichtige Fragen. Es sind Reformen notwendig, die mit viel Energie angepackt werden müssen.

Energie allerdings, die sich kaum aus Meckern speisen wird, sondern aus tiefer Dankbarkeit. Wer zu satt ist, wird faul und nörgelig. Wer dankbar ist, wird aktiv. Aktiv für Deutschland. Aktiv für Europa. Und aktiv für die Menschen in Not. Staatliche Unterstützung reicht nicht aus. Die Menschen in Ostafrika sind auf Spenden angewiesen. Wir können etwas tun. Indem wir uns informieren und indem wir spenden. Etwa hier, auf der Webseite der „Aktion Deutschland Hilft“ (www. aktion-deutschland-hilft. de). Bereits mit fünf Euro im Monat kann man Förderer werden. 25 Euro sichern das Trinkwasser für fünf Familien. Unser Pizza-Abend ist teurer. Den haben wir uns verdient. Und den gönnen wir uns auch. Aber gilt nicht auch hier, wozu Jesus die „Gesetzestreuen“ auffordert, die den Blick für Gerechtigkeit und Barmherzigkeit verloren haben: Sie sollen „das eine tun und das andere nicht lassen“ (Matthäus 23,23)? Männer, lasst uns was tun. Aus tiefer Dankbarkeit.


Uwe Heimowski (53) ist ehrenamtlicher Stadtrat in Gera. Er ist verheiratet mit Christine und Vater von fünf Kindern. Er vertritt die Deutsche Evangelische Allianz als deren Beauftragter beim Deutschen Bundestag in Berlin.

Mehr von Frank Heinrich finden Sie in dem inspirierenden Buch: FRANK UND FREI – Warum ich für die Freiheit kämpfe, das im SCM Hänssler-Verlag erschienen ist.