Der Prophet Jeremia – zum Scheitern berufen

„Ich habe meine Berufung gefunden! Meine Arbeit ist wunderbar und gesegnet!“ Begeistert erzählt Felix von seinem Engagement im Jugendkreis. Kein Wunder: Seit er dabei ist, hat sich die Zahl der Jugendlichen verdoppelt. Zehn Kilometer entfernt lebt Tristus. Vor sieben Jahren nahm er eine neue Arbeitsstelle an, nachdem er lange im Gebet darum gerungen hatte. Jetzt aber muss er eine traurige Bilanz ziehen: „Ich konnte meine Ideen nicht einbringen, weder gute Kontakte aufbauen noch einen einzigen Kollegen in die Gemeinde einladen. Ich bin ausgelaugt und fühle mich am falschen Ort!“

Felix und Tristus sind keine Einzelfälle. Wer erfolgreich ist, sieht seine Berufung bestätigt. Wer scheinbar scheitert, zweifelt an ihr. Die Gleichung, die im Hintergrund steht, ist einfach und klingt wie eine geistliche Weisheit: „Wer seiner Berufung folgt, hat Freude und Erfolg!“

Jedoch: Könnte es sein, dass diese „Weisheit“ in der Verallgemeinerung mehr menschlich als göttlich ist? Denn die Kehrseite lautet: „Wer scheitert, hat versagt.“ Wäre es stattdessen denkbar, dass Gott Menschen in eine Aufgabe sendet, obwohl er voraussieht: Nach menschlichen Maßstäben werden sie erfolglos bleiben? Gibt es eine Berufung, die zum Scheitern führt oder – sagen wir es vorsichtiger – Misserfolge beinhaltet?

JEREMIA – DER GESCHEITERTE PROPHET
Um die Antwort gleich vorwegzunehmen: Ja, vielleicht öfter, als wir wollen. Zumindest finden sich in der Bibel einige Beispiele. Paulus muss in seinem letzten Brief schmerzlich feststellen: „Das weißt du, dass sich von mir abgewandt haben alle, die in der Provinz Asia sind“ (2. Timotheus 1,15). Nachhaltiger Erfolg klingt anders. Und wie erfolgreich war Johannes der Täufer? Durch seine Berufung zum Wegbereiter des Messias verlor er seinen Kopf, weil ein vorlauter und erotisch aufgeheizter König sein Gesicht wahren wollte (Matthäus 14,1-12).

Die biblische Gestalt, die nach menschlichen Maßstäben am wenigsten Erfolg hatte, ist der Prophet Jeremia – ein Priestersohn aus dem kleinen judäischen Dorf Anatot, nördlich von Jerusalem. Die Geschichte seines Scheiterns ist ein Drama in fünf Akten und erstreckt sich über die lange Zeit von über 40 Jahren.

1. AKT: BERUFEN UND GEFORDERT
Jeremia ist noch jung, als Gott ihn zum Propheten beruft. Sein Auftrag lautet: Gottes Gericht predigen und zur Umkehr rufen. Dabei soll sich Jeremia den Königen und Mächtigen in Jerusalem ebenso entgegenstellen wie dem Volk des Landes und seiner Heimatstadt. Gott verschweigt nicht, dass Jeremia mit großem Widerstand zu rechnen hat und seine Berufung alles von ihm fordern wird. Gott redet Klartext. Kein Wunder, dass sich Jeremia zu unerfahren fühlt. Darum gibt ihm Gott gleich zu Anfang drei Versprechen: Er selbst gibt Jeremia die Worte, die er reden soll; er wird über sein Wort wachen, so wie der Mandelzweig im Frühling erwacht; und schließlich sagt er: „Ich bin bei dir, dass ich dich errette.“ (Jeremia 1,8.19) Mit diesen Zusagen schickt er Jeremia in seine Mission.

„Keiner hat gesagt, dass es leicht wird!“ So kommentieren Fußballtrainer zur Halbzeitpause manchmal den Kampf ihrer Mannschaft, wenn das Spiel gegen den Favoriten alles fordert. Auch wir müssen klar sehen: Keiner hat gesagt, dass es leicht ist, seiner Berufung gerecht zu werden, Jesus konsequent nachzufolgen, ein guter Ehemann, Vater, Freund und Arbeitskollege zu sein.

2. AKT: ENTTÄUSCHT UND VERSPOTTET
Jeremia hält seine ersten Predigten (v. a. Jeremia 1-6) in der Regierungszeit des Königs Josia (639-609 v. Chr.). Wie es seinem Auftrag entspricht, konfrontiert er das ganze Volk. Seine Anklagen sind hart. Die Menschen wenden dem lebendigen Gott den Rücken zu und hängen sich an die nutzlosen Götzen der Nachbarvölker. Die Reichen unterdrücken die Armen. Ehebruch und Treulosigkeit sind weit verbreitet. Vor allem die Priester, Propheten und Fürsten haben versagt. Denn sie wiegen das Volk in falscher Sicherheit, anstatt es zur Umkehr zu rufen. Darum droht allen der Untergang. In einer Vision zeigte Gott Jeremia das kommende Unheil: den Feind aus dem Norden. Wie ein Kessel mit kochendem Inhalt wird er sich über Juda und Jerusalem ergießen, wenn das Volk nicht zu Gott zurückkehrt. Jeremia leidet doppelt: mit dem Volk unter dem angedrohten Gericht Gottes, und mit Gott unter dem Abfall des Volkes. Sein Kummer bereitet ihm innere Schmerzen.

Für eine kurze Zeit sieht es so aus, als ob Jeremia mit seiner Predigt Erfolg hat. Bei Bauarbeiten im Tempel wird eine Schriftrolle gefunden. König Josia liest sie und bekehrt sich zu Gott. Er lässt die fremden Heiligtümer im Land zerstören, die Götzen aus dem Tempel entfernen und einen Bußgottesdienst feiern (2. Könige 22-23). Jeremia muss aber feststellen, dass die Rückkehr zu Gott nur oberflächlich ist und nicht von Herzen kommt (Jeremia 3,10). Wieder nimmt er die Priester und Propheten besonders in die Kritik. Sie predigen eine falsche Sicherheit und haben damit Erfolg. Denn der Feind aus dem Norden, den Jeremia angekündigt hat, erscheint nicht. Im Gegenteil. Das assyrische Großreich schwächelt. Die unterworfenen Königreiche machen sich unabhängig. Auch König Josia nutzt die Chance und baut seine Macht aus. Für Jeremia hat das Volk nur noch Spott übrig.

Als Josia in einem Anflug politischer Fehleinschätzung einem ägyptischen Heer entgegentritt und tödlich verwundet wird, verliert Jeremia nicht nur eine schützende Hand, sondern auch alle Hoffnungen, die sich mit diesem König verbunden hatten. Von nun an geht es für ihn nur noch bergab.

3. AKT: GEMOBBT UND BEDROHT
Unter den nachfolgenden Königen Joahas und Jojakim setzt sich die Abkehr des Volkes von Gott fort. Jeremia erhält einen besonderen Auftrag: Er soll öffentlich im Tempel predigen und mit seiner Zerstörung drohen (Jeremia 7-10; 26). Doch die Reaktion auf Jeremias Predigt ist anders als erhofft. König Jojakim lässt sich die Rede vorlesen, verbrennt die Schriftrolle aber sofort. Die direkten Zuhörer werden aggressiv, ergreifen Jeremia und wollen ihn töten. Nur durch die Fürsprache einiger Ältesten kommt Jeremia mit dem Leben davon. Doch der Schock sitzt tief. Der Gehorsam gegenüber Gott und seinem Wort hat ihn in Todesgefahr gebracht – scheinbar umsonst.

Und doch war dies erst der Anfang. In seinem Heimatort Anatot bedrohen ihn die Menschen, seine eigenen Nachbarn und Verwandten! Der Priester Paschhur, Oberaufseher im Tempel und damit Jeremias Chef, lässt ihn auspeitschen und gefangen nehmen. Eine Nacht lang liegt Jeremia bewegungslos auf dem Boden, die Hände und Füße in einen Holzblock gelegt (Jeremia 20).

Das alles erleidet er nicht mit dem Glorienschein eines unerschütterlichen Helden. Nein, er zeigt Schwäche und Verletzlichkeit, offenbart seine Wunden, Angst und Zweifel. Das Buch Jeremia enthält fünf Gebete, in denen der Prophet Gott seinen Frust klagt (11,18-12,4; 14,10-18; 17,14-18; 18,18-23; 20,7-18). Er ist kurz davor, seinen ganzen Auftrag hinzuschmeißen, so sehr belasten ihn der Spott und die Angriffe seiner Gegner. Er fühlt sich von Gott betrogen und verflucht den Tag seiner Geburt.

Auf die scharfen Worte könnte man eine scharfe Zurechtweisung erwarten. Doch Gott lässt die Klagen zu. Er stellt sich zu seinem Boten und bestätigt seine Berufung (Jeremia 17,19-21) – und das nach über 20 Jahren Misserfolg! Gott macht Jeremia damit klar: Du hast nicht versagt! Die Vergeblichkeit deines Tuns ist Teil deiner Berufung – so schwer das auch zu ertragen ist.

Was können wir Männer des 21. Jahrhunderts von Jeremia lernen? Allzu oft nehmen wir Rückschläge äußerlich heroisch hin, während wir uns innerlich als Versager anklagen. Jeremia zeigt uns, wie man in Niederlagen und im Scheitern beten kann: Den Frust ehrlich zugeben und mit Gott darum ringen, dass er die Berufung bestätigt oder eben auch einen anderen Weg zeigt.

4. AKT: VERLEUMDET UND ENTSORGT
Im Jahr 597 v. Chr. kommt das angekündigte Gericht in Gestalt des babylonischen Königs Nebukadnezar, dem neuen angehenden Weltherrscher. Jerusalem wird belagert, erobert und geplündert, die Oberschicht nach Babylon verschleppt. Zurück bleiben verängstigte Bewohner, regiert von König Zedekia. Obwohl Jeremias Prophetie sich als wahr erwiesen hat, wird er weiterhin verachtet und seine Botschaft verspottet.

Wieder kommt es zu einer politischen Fehleinschätzung durch den König. Zedekia verbündet sich mit dem ägyptischen Pharao und rebelliert gegen Nebukadnezar. Jeremias Protest und Warnung bleiben ohne Wirkung. Falsche Propheten treten auf, widersprechen ihm und ermutigen das Volk zum Aufstand. Es dauert nicht lange und Nebukadnezar zieht erneut mit einem großen Heer Richtung Jerusalem. Jeremia sieht nur eine Chance, vielen Menschen das Leben zu retten: Er ruft im Namen und Auftrag Gottes die Bevölkerung zur Flucht und die Soldaten zur Desertion auf. Nur wenige folgen seinem Rat. Jeremia zahlt einen hohen Preis dafür. Er wird als Verräter gebrandmarkt, geschlagen und in eine verschlammte Zisterne geworfen. Man kann sich ausmalen, wie schlecht ein politischer Gefangener während einer Belagerung versorgt wird.

Endlich bekommt Jeremia noch eine Chance. König Zedekia trifft sich heimlich mit ihm im Tempel. Jeremia beschwört ihn eindringlich, die Stadt kampflos zu übergeben und so viele Menschenleben zu retten (Jeremia 38). Doch Jeremias Seelsorge bleibt ebenso erfolglos wie seine öffentlichen Predigten. Kurze Zeit später, im Jahr 587 v. Chr., wird Jerusalem vollständig vernichtet.

Ist es nicht bemerkenswert, dass Jeremia sich immer noch und immer wieder Gott zur Verfügung stellt? Er gibt selbst nach 40 Jahren die Hoffnung nicht auf, dass Gott seinen Worten die Wirkung schenken wird, auf die er schon so lange vergeblich hofft. Das ist eine bewundernswerte Treue, zu der sich Jeremia freilich – wie wir gesehen haben – immer wieder durchkämpfen musste.

5. AKT: VERSCHLEPPT UND VERSCHOLLEN
Doch immer noch ist Jeremias Leidensgeschichte nicht zu Ende. Eine Splittergruppe radikaler Widerstandskämpfer ermordet den babylonischen Statthalter Gedalja. Die wenigen übrig gebliebenen Einwohner wollen aus Angst vor Racheakten nach Ägypten fliehen. Wieder ist Jeremia von Gott zum Protest berufen. Wieder wird er nicht gehört, obwohl sich bisher alle seine Prophetien als wahr erwiesen hatten.

Doch damit nicht genug: Jeremia wird mit nach Ägypten verschleppt. Dort muss er miterleben, wie sein Volk sich den Göttern Ägyptens zuwendet und scheinbar nichts aus der Geschichte gelernt hat. Seine letzte Predigt wiederholt die Botschaft, die er schon jahrzehntelang erfolglos verkündete. Damit verliert sich seine Spur im Alten Testament. Er ist wohl nie nach Jerusalem zurückgekehrt.

EINE FRAGE DER PERSPEKTIVE
Jeremia gilt als der gescheiterte Prophet. In keinem Moment seines Lebens sah er den Erfolg seines Wirkens. Doch er war weder unbegabt noch hat er versagt. Jeremia war zum Scheitern berufen. Das erzählt uns seine Geschichte, wie sie im Buch Jeremia aufgeschrieben ist.

Weiten wir aber unseren Blick und lesen sie im Zusammenhang der ganzen Bibel, zeigt sich ein anderes Bild. Jeremia hat der Nachwelt Worte hinterlassen, deren Sprachkraft und Bildreichtum einzigartig sind. Seine Anklagen und Gerichtsdrohungen vermitteln den Generationen nach ihm eindrücklich, dass die Abkehr von Gott kein leichtfertiges Unternehmen ist. Seine Vorhersagen über die Zukunft haben sich schließlich in Jesus erfüllt: der neue ewige Bund der Vergebung, den Gott mit seinem Volk schließt (Jeremia 31,31-34). Bei jedem Abendmahl hören wir, vermittelt durch Jesu Einsetzungsworte, auch Jeremias Stimme!

Seit Jeremia haben viele Menschen diese Erfahrung gemacht: Was für uns selbst nach erfolglosem Scheitern aussieht, erweist sich aus Gottes Perspektive manchmal als treues und segensreiches Wirken. Gott hat einen langen Atem! Zweifeln wir also nicht zu schnell an unserer Berufung, wenn wir in unserer Kurzatmigkeit keinen schnellen Erfolg sehen.

Dr. Dirk Kellner lebt mit seiner Familie in Steinen. Er ist Pfarrer der Evangelischen Landeskirche Badens (www.ekstei.de). Wenn „der Berg ruft“, kann ihn kaum etwas halten, bis er zu Fuß oder mit dem Bike auf dem Gipfel steht.

MOVO und JOYCE im Schnupperpack

nur € 5,00 für 2 Hefte